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4.6.2 Perspektivwechsel

Die Regeln zu Erzählperspektiven werden genauer unter 4.2 Erzählperspektive beschrieben.


Zu Beginn einer Geschichte treten oft mehrere Figuren gleichzeitig auf, schließlich will man ja auch möglichst schnell einen Konflikt in der Erzählung haben.  Jede Figur hat nicht nur einen eigenen Hintergrund, sondern auch eigene Ansichten.

Hier gibt es die große Versuchung, die verschiedenen Ansichten der verschiedenen Figuren möglichst schnell erwähnen zu wollen.  Benutzt man einen auktorialen Erzähler, dann kann man das auch.  In allen anderen Erzählperspektiven ist das aber nicht so leicht möglich, wird aber dennoch immer wieder versehentlich gemacht.

Grolt trat aus der Höhle und blickte über den Abhang auf die feindliche Armee hinab. Tausende der zerbrechlichen menschlichen Soldaten waren dort versammelt, mit Speeren, Schilden und zum Teil großen Maschinen. Was diese ihnen wohl bringen sollten? Ein Katapult mochte gegen Burgmauern der Menschen etwas ausrichten können, doch wollten diese zarten Wesen tatsächlich Steine gegen die Flanken der Berge schleudern, in denen die Trollhöhlen waren? Grolt runzelte die Stirn.

Etwas flog heran, etwas Leichtes, Kleines. Mit einem pfeifenden Geräusch schlug es einige Meter vor ihm auf den Fels auf, sprengte eine kleine Staubwolke empor und rutschte dann weiter bis vor seine Füße. Aufgeregte Befehle wurden in der Armee gerufen, und es blieb bei dem einen Geschoss. Grolt bückte sich und hob den Pfeil auf. Mit dem Daumen knickte er das harmlose Ding ab. Diese Menschen waren wirklich nicht zu verstehen.

»Was wollt ihr?«, rief er den Menschen entgegen. Seine Stimme war tief, rau und sehr laut. Die Geräusche von klappernden Waffen, Schilden und Gesprächen, die er konstant von den Soldaten gehört hatte und die ihn auch aus der Höhle gelockt hatten, verstummten jetzt fast völlig.

Ein Mensch trat aus der Armee hervor. Er war gerüstet, aber nicht besonders groß oder kräftig. Für einen Menschen vielleicht schon, doch aus Grolts Sicht war das kein Gegner. Grolt war alt und Neugierde war nicht mehr seine hervorstechendste Eigenschaft. Doch er wollte wissen, was dieser Mensch sich dabei dachte, so ungeschützt zu ihm zu kommen, also beobachtete er stumm, wie die kleine Figur den Abhang hinaufkletterte und sich schließlich vor ihm aufbaute.

»Ich bin Sirgud aus dem Hause Ebendreich!«, rief der Mensch. »Wir fordern den Berg von Euch!« Dünn und fast vom Wind davongetragen schien ihm seine Stimme. Kein Vergleich zu dem satten Trollbass, der eben noch den Hang herabgerollt war und so viele seiner Soldaten in Furcht und Schrecken versetzt hatte. Kaum hatte er die Forderung ausgesprochen, schien sie ihm albern, als würde man von einem Gewitter den Abzug fordern.

Die Erzählung ist in einer personalen Perspektive verfasst und schaut zu Beginn durch die Augen des Trolls Grolt.  Es werden seine Wahrnehmungen, seine Einschätzungen und Überlegungen geschildert, und es wird beschrieben, was er tut.  Als er spricht, wird seine Stimme aus der Perspektive des neutralen Erzählers als tief, rau und sehr laut beschrieben.  Damit wird ein Perspektivwechsel vollzogen, denn der Troll selbst wird seine eigene Stimme vermutlich nicht besonders tief, rau oder laut wahrnehmen.  Diese Art von kleinem Perspektivwechsel ist eine vertretbare Konzession an die Erwartung des Lesers, der ja schließlich auch noch in die Situation eingeführt werden muss, aus Trollaugen zu schauen.

Doch als Sirgud spricht, wechselt die Perspektive zu dem Menschen.  Ihm (gemeint ist Sirgud) scheint seine Stimme dünn.  Der Trollbass wird jetzt beschrieben als etwas, das den Hang herabgerollt ist (nicht etwa hinabgerollt, was aus Grolts Sicht korrekt wäre).  Es werden Furcht und Schrecken genannt, die seine Soldaten haben und es wird Sirguds Gefühl von Aussichtslosigkeit beschrieben.


Besonders an Anfängen von Geschichten finden sich solche ungeschickten Perspektivwechsel, weil die Versuchung groß ist, alle interessanten Figuren auch gleich zu charakterisieren und dafür auch ihre Gefühle und Gedanken zu schildern.

Solche Perspektivwechsel funktionieren nicht in einer personalen Erzählperspektive, sie irritieren den Leser.  Möchte man so etwas beschreiben, sollte man den auktorialen Erzähler wählen, der problemlos die Sicht jeder Figur beschreiben kann.

Doch es ist oft reizvoller, zunächst auf einen umfassenden Bericht über die Befindlichkeiten aller Figuren zu verzichten und stattdessen konsequent aus einer Perspektive zu erzählen.  Um so überraschender ist es, wenn später die Perspektive wechselt und die schon beschrieben Situation noch einmal (als Erinnerung oder tatsächlich noch einmal) erzählt wird.


Nächster Abschnitt:  4.6.3 Stimmungsbrüche

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