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4.2 Erzählperspektive

Es gibt vier klassische Erzählperspektiven.  An eine davon sollte man sich konsequent halten.

Spezielle Kapitel wie Prologe, Zwischenspiele und Epiloge sind oft in der Erzählperspektive des auktorialen oder neutralen Erzählers (s. u.) geschrieben, auch wenn in den anderen Kapiteln eine eingeschränktere Perspektive genutzt wird.  (Zu allem anderen siehe die Vorbemerkung zu Regeln in der Menüleiste.)

4.2.1 Der Ich-Erzähler

In dieser Perspektive wird die Geschichte aus der Sicht eines Protagonisten erzählt, der auch selbst der Erzähler ist.  Folglich spricht er von sich in der ersten Person (ich).

Der Leser erfährt nur das, was diese eine Figur erlebt, denkt und fühlt.  In einer Ich-Erzählung kommt nicht vor, was in den Köpfen anderer Figuren vor sich geht.  Lediglich das, was der Ich-Erzähler wahrnimmt, weiß und vermutet, wird berichtet:

Ich kam ins Büro und warf meine Tasche in den Schrank. Ich ärgerte mich sehr über meinen Chef. Er schien mir nie zufrieden und die Gehälter der Mitarbeiter der Firma kamen mir auch viel zu niedrig vor.

Vorteil:  Der Ich-Erzähler erleichtert bzw. verstärkt die Identifikation mit dieser Figur.

Nachteil:  Die Geschichte wird aus einem einzelnen Blickwinkel erzählt.  Nicht jede Geschichte eignet sich dafür.

4.2.2 Die personale Perspektive

Diese Perspektive ist dem Ich-Erzähler ähnlich, allerdings wird in der dritten Person (er/sie) erzählt.  Auch hier beschränkt sich die Erzählung auf das, was eine einzelne Figur wahrnimmt, denkt und fühlt:

Marion kam ins Büro und warf ihre Tasche in den Schrank. Sie ärgerte sich sehr über ihren Chef. Er schien nie mit ihrer Arbeit zufrieden zu sein und die Gehälter der Mitarbeiter der Firma kamen ihr auch viel zu niedrig vor.

Die personale Perspektive muss nicht beschreiben, was in der Figur vorgeht.  Figuren können dadurch eine Aura des Unnahbaren bekommen.  Doch wenn man diese Perspektive wählt, dann ist es wie ein Verrat am Leser, wenn man relevante Gedanken und Gefühle der gewählten Figur nicht erwähnt.  Man kann andeuten, dass etwas nicht gesagt wird.

Marion hatte bereits einen Plan, doch mit dem würde sie noch bis nach Weihnachten warten. Sie brauchte dafür den Schnee, der dann sicher fallen würde.

Doch so etwas droht schnell, bedeutungsschwanger und ominös zu werden.

Will man den Leser damit überraschen, dass eine Hauptfigur einen geheimen Plan hatte und sich dadurch als etwas anderes entpuppt, als es ursprünglich den Anschein hatte, dann ist eine neutrale Perspektive (s. u.) oft besser geeignet.

Vorteil:  Die Identifikation mit der Figur ist noch immer recht hoch, aber man kann unkomplizierter die Figur wechseln (z. B. von Kapitel zu Kapitel verschiedene Protagonisten beschreiben).  Ein Ich-Erzähler bleibt hingegen bei einer Figur.

Nachteil:  Man kann noch nicht alle Umstände beschreiben und erfährt wieder nur das Innenleben der gewählten Protagonisten.  Treffen mehrere interessante Figuren aufeinander, kann man die Situation nur aus der Sicht einer dieser Figuren beschreiben.  Die Gedanken und Gefühle der anderen Figuren können nur durch Beschreibungen ihres Verhaltens erzählt werden.

4.2.3 Die neutrale Perspektive

Hierbei wird wie in einem Film beschrieben, was die Figuren tun.  Aus den Beschreibungen kann der Leser ableiten, wie das Innenleben der Figuren ist, aber es wird nicht explizit erzählt:

Marion kam ins Büro und warf ihre Tasche mit einiger Wucht in den Schrank, sodass es schepperte. Sie stand wütend schnaubend noch einen Moment da, die Hände in die Hüften gestützt.

Vorteil:  Durch das erzwungene Show-Don’t-Tell steigert sich die Visualität der Beschreibungen.  Bei dieser Erzählweise kann man den Leser problemlos im Unklaren lassen, wer welche Ziele verfolgt (Spionagethriller usw.).  Der Leser hat mehr Freiraum, wen er als Identifikationsfigur ansieht, und das kann im Laufe der Geschichte auch wechseln.  Generell sind die Erzählungen dadurch unvorhersehbarer; Figuren können (anders als beim Ich-Erzähler) z. B. wegsterben.

Nachteil:  Der Leser identifiziert sich schwerer mit einem Protagonisten.  Es ist mühsam, das Innenleben einer Figur zu klären, da man nur ihr Äußeres beschreiben kann.  Ein Restzweifel bleibt selbst bei minutiöser Beschreibung.  Im Beispiel oben erfahren wir durch unser Zuschauen nicht, was Marion so wütend macht.  (Um das doch noch zu klären, kann man Marion z. B. ihr Problem mit jemandem besprechen lassen.)

Die neutrale und die personale Perspektive werden hin und wieder gemischt.  In diesen Fällen handelt es sich streng genommen um eine personale Perspektive, die sich aber phasenweise mit der Beschreibung des Innenlebens ihrer gewählten Figur so sehr zurückhält, so dass sie dann wie eine neutrale Perspektive erscheint.

4.2.4 Der auktoriale Erzähler

Die umfangreichste Erzählperspektive ist der auktoriale Erzähler.  Er ist allwissend, kennt alle Fakten und kann in den Kopf jeder Figur schauen:

Marion kam ins Büro und warf ihre Tasche in den Schrank. Sie ärgerte sich sehr über ihren Chef Markus. Ihrem Eindruck nach war er nie zufrieden und zahlte auch zu geringe Gehälter an die Mitarbeiter der Firma aus. Sie ahnte nicht, dass Markus nur deshalb immer so griesgrämig schaute, weil er nicht wusste, ob er die nächsten Gehälter überhaupt noch überweisen konnte. Die Firma war beinahe bankrott. Mit Marions Arbeit war Markus in Wirklichkeit mehr als zufrieden, er betrachtete sie sogar als seine Nachfolgerin, wenn er sich einmal zur Ruhe setzen sollte.

Wie viel er tatsächlich preisgibt, ist nicht festgelegt.  Einige auktoriale Erzähler berichten sogar gleich zu Beginn der Erzählung, wie sie enden wird:

Dies sind die letzten vierzehn Tage aus dem Leben Peter Grumptons.

Natürlich wäre jeder Witz weg, wenn nichts verheimlicht würde, daher sollte auch der gesprächigste auktoriale Erzähler entscheidende Informationen erst zu bestimmten Zeitpunkten preisgeben.

Vorteil:  Man kann dem Leser alles uneingeschränkt berichten.  Oder es lassen, wenn man das nicht möchte.  Man kann sogar phasenweise in eine personale Perspektive wechseln, z. B. um dadurch die Spannung zu erhöhen.

Nachteil:  Der Leser identifiziert sich oft mehr mit dem Erzähler als mit den Figuren, und wenn dieser Erzähler ihm etwas verschweigt, wird das schnell als Vertrauensbruch empfunden.  Um das zu vermeiden, kann der auktoriale Erzähler auch explizit sagen, dass er bestimmte Dinge nicht sagt:

Marion kam ins Büro und warf ihre Tasche in den Schrank. Sie ärgerte sich sehr über ihren Chef Markus. Ihrem Eindruck nach war er nie zufrieden und zahlte auch zu geringe Gehälter an die Mitarbeiter der Firma aus. Sie ahnte nicht, worin das viel größere Problem bestand, sonst hätte sie sich weniger über Markus aufgeregt.

Der Nachteil dieser Methode ist, dass es schnell aufgesetzt und bedeutungsschwanger wirken kann.  Im Extremfall kann der auktoriale Erzähler auch in die erste Person wechseln:

Marion kam ins Büro und warf ihre Tasche in den Schrank. Sie ärgerte sich sehr über ihren Chef Markus. Ihrem Eindruck nach war er nie zufrieden und zahlte auch zu geringe Gehälter an die Mitarbeiter der Firma aus. Ich werde hier noch nicht berichten, was hinter den Problemen steckte, die Markus so reagieren ließen, doch hätte Monika mehr gewusst, wäre sie weniger ärgerlich gewesen.

Generell bewirkt diese Erzählperspektive in aller Regel eine erhebliche Distanzierung und sorgt dafür, dass der Leser weniger in der Geschichte steckt.

Bei Kinderbüchern wird diese Art der Erzählung gerne gewählt, weil sie der ohnehin zu erwartenden Vorlesesituation entspricht:  Die Vorleserin oder der Vorleser verkörpert dann den auktorialen Erzähler.  Zudem vermittelt sie ein gewisses Maß an Sicherheit:  Der Figur kann viel passieren, doch der allwissende Erzähler behält den Leser sorgsam an der Hand und erklärt ihm alles:

Er weinte wegen des Geldes. Und er weinte wegen seiner Mutter. Wer das nicht versteht, und wäre er noch so tapfer, dem ist nicht zu helfen. Emil wusste, wie seine Mutter monatelang geschuftet hatte, um die hundertvierzig Mark für die Großmutter zu sparen und um ihn nach Berlin schicken zu können. Und kaum saß der Herr Sohn im Zug, so lehnte er sich auch schon in eine Ecke, schlief ein, träumte verrücktes Zeug und ließ sich von einem Schweinehund das Geld stehlen. Und da sollte er nicht weinen? Was sollte er nun anfangen?

4.2.5 Fazit

Man sollte sich also vor der Wahl der Erzählperspektive gut überlegen, was man wie erzählen möchte.  Die Wahl sollte dann auf diejenige fallen, die am besten zu den Anforderungen der Geschichte passt, und auch die Geschichte muss vielleicht entsprechend gestutzt werden an den Stellen, die sich mit der gewählten Perspektive nicht gut erzählen lassen.

Natürlich könnte man einige Teile als auktorialer Erzähler schreiben, andere als Ich-Erzähler und wieder andere neutral verfassen, um so die jeweiligen Vorteile optimal abgrasen zu können.

Doch das wird den Leser irritieren, weil es nicht üblich ist und er sich jedesmal komplett neu orientieren muss.


Nächster Abschnitt:  4.3 Rückblicke (Perfekt)

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