4 Die Sprache der Erzählung

4 Die Sprache der Erzählung

Briefe, Dokumentationen, Zeitungen, Texte für Nachrichtensprecher, Betriebsanleitungen – sie alle haben bestimmten sprachliche Regeln, die sich voneinander unterscheiden, auch wenn sie alle in Deutsch geschrieben sind.  Was ich im Folgenden zu Geschichten sage, gilt also nur für Geschichten (Romane, Erzählungen).

4.1 Präsens oder Präteritum

Jede Geschichte ist entweder im Präsens (Gegenwart) oder im Präteritum (Vergangenheit, auch Imperfekt genannt) geschrieben.  Die meisten tatsächlich im Präteritum:

Aragorn eilte weiter den Berg hinauf. Dann und wann bückte er sich und untersuchte den Boden.

Im Präsens würde der Text lauten:

Aragorn eilt weiter den Berg hinauf. Dann und wann bückt er sich und untersucht den Boden.

Eine der ersten Entscheidungen beim Schreiben einer Geschichte sollte immer sein, ob sie im Präsens oder im Präteritum erzählt wird, denn das muss einheitlich sein (siehe aber auch die Vorbemerkung zu Regeln).

Ich halte das Präteritum für die einfachere Version, weil sie weiter verbreitet ist.  Das Präsens bietet zudem einige Freiheiten mehr und verlangt damit auch mehr Sprachgefühl beim Schreiben.  Die größere Variantenbreite bietet auch mehr Möglichkeiten, Fehler einzubauen.

Im Präteritum wird alles aus einem späteren Zeitpunkt erzählt, dadurch entspricht es der natürlichen Art, wie über tatsächliche Ereignisse berichtet wird.  Ein Erzähler berichtet zum Zeitpunkt X, was erheblich vor diesem Zeitpunkt X geschehen ist.  Das hat einige natürliche Konsequenzen.

Der Erzähler berichtet etwas, das er selbst wahrgenommen hat oder das ihm so von jemandem überliefert worden ist.  Er berichtet es aber aus seiner Sicht von heute, also vom Zeitpunkt X aus.  Seine emotionale Verbindung zur Geschichte ist also zeitlich distanziert.

Im Präsens hingegen wird erzählt, als würde die Geschichte gerade jetzt zum Zeitpunkt des Erzählens auch stattfinden.  Das verringert die Distanz, was zu mitreißenderen, spannenderen Texten führen kann.

Die Erzählung im Präteritum kann zwei Ausprägungen haben:

  • Episches Präteritum

    Alle Dinge werden beschrieben, als wären sie (nur) zur Zeit der Handlung aktuell.  Dann werden auch alle Dinge, die eigentlich zeitlos sind, im Präteritum erzählt:

    Hans ging den Ku’damm entlang. An seinem Ende stand die Ruine der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mit ihrem markanten im Krieg zer­störten Turm.

    Es spielt hier keine Rolle, ob die Kirche auch heute (zum Zeitpunkt des Erzählens der Geschichte) noch dort steht.  Die Geschichte wird im epischen Präteritum erzählt, also wird alles im Präteritum formuliert.  Sogar solche Sätze sind dann richtig:

    Schon morgen war Weihnachten.

    Obwohl morgen inhaltlich auf etwas in der Zukunft hindeutet, bleibt man bei Erzählungen im epischen Präteritum beim war, was in der Vergangenheit liegt.  Gemeint ist natürlich, dass der nächste Tag Weihnachten war.

  • Berichtendes Präteritum

    Dinge werden wie in einem Bericht formuliert, sodass Zeitloses oder zum Zeitpunkt des Berichtens noch Aktuelles nicht im Präteritum, sondern im Präsens formuliert wird:

    Aragorn eilte weiter den Berg hinauf. Dann und wann bückte er sich und untersuchte den Boden. Hobbits haben einen leichten Schritt, und selbst für einen Waldläufer sind ihre Fußspuren nicht leicht zu lesen; …

    Die Erläuterung zu den Spuren, die Hobbits hinterlassen, steht hier im Präsens, weil sie zeitlos ist.  Und auch wenn der Herr der Ringe einige Eigenschaften eines Epos hat, ist er in dieser Hinsicht nicht im epischen Präteritum verfasst.  Im Gegenteil beginnt Tolkien seine Erzählung mit einem Bericht über Hobbits, der ebenfalls im Präsens verfasst ist:

    Die Hobbits sind ein unauffälliges, aber sehr altes Volk, …

    Dadurch vermittelt er einen Eindruck von Aktualität, als wären die Hobbits auch heute noch Teil unserer Welt.  Auf der Basis dieser Einleitung macht es Sinn, auch in der späteren Handlung immer wieder solche scheinbar aktuellen Fakten im Präsens zu formulieren.


Nächster Abschnitt: 4.2 Erzählperspektive

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